Roman, Verlag Gatza bei Eichborn, Frankfurt, 1996

Weitere Ausgaben:

Textauszug

Meine Befürchtungen waren umsonst. Es waren nur wenige Leute gekommen. Vereinzelt saßen sie über die Sitzreihen hinweg verteilt. Ich war absichtlich spät, um nicht der erste zu sein. Irgendwo flüsterte jemand. Ich trat über die Türschwelle und blieb stehen. Es war ein etwas altertümlicher Saal mit getäfelten Wänden und dunkel gebeizten Bänken wie in einer Kirche. Mir war warm. Meine Hände waren feucht, und ich strich sie an der Hose ab. Ich schaute mich um und erkannte niemanden. Von den Anwesenden drehte sich niemand nach mir um, was mich erleichterte. Ich trat in den Raum. Von den Wänden hallte jeder meiner Schritte auf dem Marmorboden wider. Ich setzte mich in die zweithinterste Reihe, in der niemand saß. So konnte ich, obwohl es mich interessiert hätte, keines der Gespräche mitverfolgen. Zu gern hätte ich gewußt, wer diese Leute waren, warum sie hier waren, was sie an diesem Prozeß interessierte.

Die vorderen gegen das Publikum gekehrten Tische und Bankreihen waren noch leer. Vereinzelt lagen Aktenordner und Bücher bereit. Gleich würde das Licht ausgehen, und das Spektakel könnte beginnen.

Dann wurde es auf einen Schlag totenstill im Saal, und ich bemerkte, daß man hinter uns die Türen geschlossen hatte. Die Bänke knarrten, wenn man sich bewegte. Ich saß wie versteinert. Da ich noch nie an einer Gerichtsverhandlung teilgenommen hatte, versuchte ich mir während der endlosen Sekunden der Stille vorzustellen, wer wo plaziert sein würde. Noch waren die Plätze leer, und ich irrte mit meinem Blick über die Kulissen, über die Wände an der Seite, über die Köpfe vor mir und unterließ es, hinter mich zu schauen. Dabei konnte ich es nicht vermeiden, das ganze einmal nur für ein Theater zu halten, dann plötzlich wieder für das, was es wirklich war.

Schließlich traten die Herren in langen schwarzen Roben aus dem Hintergrund auf die Bühne. Es war, als ginge ein kleiner Windzug durch den Saal.

Ich strich mir durch die Haare und richtete mich auf. Nachdem sich alle auf ihre Plätze gesetzt hatten, wurde der Angeklagte von einem Polizisten hereingeführt und dem Verteidiger übergeben, der ihn bat, neben ihm Platz zu nehmen. Der Polizist trat in den Hintergrund, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und erstarrte – nur der Schlagstock an seiner Seite baumelte noch ein bißchen.

Ich schlug die Beine übereinander, strich die Hände über das Knie, und der Richter begann.

Er forderte den Angeklagten auf, sich zu erheben, um den Eid abzulegen.

Dann befahl er ihm, sich wieder zu setzen, und routiniert begann er vorzulesen:

– Harry W., geboren in H., Bürger von H., wohnhaft daselbst in der Quartierstraße 34 bis zum 30. September letzten Jahres, gelernter Bankkaufmann, angestellt bei der Bank X bis zum 30. April letzten Jahres, danach vier Monate arbeitslos, Umzug nach T. in die Rosengartenstraße 1 und seither angestellt als Chauffeur bei Dr. Walter Herrsberg, ob das der Richtigkeit entspreche.

– Ja, sagte Harry mit leiser Stimme. Bleich saß er da und schaute auf die Tischplatte. Es war lange her, daß ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und noch nie hatte ich ihn in einem solchen Zustand gesehen. Er ist groß und kräftig, schlank, dabei nicht mager, eher athletisch gebaut. Von seinem heftigen Temperament und seiner überzeugenden Art schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Und noch während Harry den Eid ablegte, erinnerte ich mich an eine Diskussion mit ihm, in deren Verlauf ich immer ruhiger wurde und schließlich gar nichts mehr sagte. Da wurde er plötzlich still, schaute mich streng an und schrie mir entgegen: Werd› endlich kriminell verdammt! Im ersten Augenblick verstand ich nicht, was er damit sagen wollte. Erst später begriff ich, daß er mein Verstummen nicht ertragen konnte, daß ich ihm als Gegner nicht mehr gewachsen war, was ihn rasend machte. Von diesem Tag an benutzte er diesen Satz immer wieder, wenn ich zu schnell aufgab oder mich seiner Ansicht nach zu wenig anstrengte. Für ihn war jede Form von Aufgeben eine Art Feigheit, auch wenn man längst geschlagen war.

Und nun saß er da.

Versuchter Mord lautete die Anklage. Der Kläger war der knapp dem Tod entronnene Dr. Walter Herrsberg, sein ehemaliger Vorgesetzter, ein Multimillionär, der sich nach dem Vorfall im Tessin niedergelassen hatte, wo er seit einiger Zeit Haus um Haus aufkauft.

Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Nach der Beschreibung in der Zeitung, wo ich von dem Vorfall gelesen hatte, hätte das Opfer ein etwas älterer, hilfloser Mann sein sollen. Statt dessen saß hier ein nicht mehr ganz junger, glatzköpfiger, fetter Riese, den Harry in brutaler Weise habe auf die Seite schaffen wollen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß er so weit gehen würde.